Evangelische
Kirchengemeinde
Wesel
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Vor 80 Jahren: Kirchenkampf in Wesel

Das Weseler Presbyterium in der Zeit des Nationalsozialismus

Pfarrer Albrecht Holthuis hat die Protokollbücher des Presbyteriums in der Zeit des Dritten Reichens studiert und dazu einen Aufsatz verfasst. Die wichtigsten Auszüge veröffentlichen wir hiermit parallel zum Erscheinen des neuen Gemeindebriefs.

Wie in vielen Teilen des Deutschen Reiches kam es im Zusammenhang mit der Machtübernahme Hitlers und dem Beginn des „Dritten Reiches“ 1933 auch in Wesel zu einem „Kirchenkampf“ innerhalb der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel. Gemeint ist damit vor allem der Konflikt zweier Lager innerhalb der Evangelischen Kirche im Dritten Reich, die sich im Zuge der Auseinandersetzung mit  dem Nationalsozialismus und seinem Totalitätsanspruch gebildet hatten. Auf der einen Seite stand die den Nationalsozialisten nahestehende  „Glaubensbewegung deutscher Christen“ (DC), auf der anderen Seite bildete sich die „Bekennende Kirche“ (BK). Innerhalb des Weseler Presbyteriums gab es sichtbare Gräben zwischen der einen oder der anderen Seite. In den Jahren ab 1936 entwickelte sich der „Kirchenkampf“ zu einem  Konflikt zwischen nationalsozialistischen Staatsideologie und Evangelischer Kirche. Im folgenden sollen die wichtigsten Entwicklungen innerhalb dieses Weseler Kirchenkampfes aufgrund von Protokollnotizen der Sitzungen des Presbyteriums aus dieser Zeit nachgezeichnet und gedeutet werden.{1009_Protokollbuecher_klein.jpg}

Situation am Vorabend der Machtergreifung Hitlers

Schon einige Zeit vor der Machtergreifung durch die Nationalsozialisten hat das Presbyterium das Gemeindehaus – zu der damaligen Zeit ein Vorzeige-Haus für öffentliche Veranstaltungen – für Parteiversammlungen vermietet. Insbesondere die gerade entstandene Ortsgruppe der NSDAP macht sich dieses zu Nutze und führt dort Veranstaltungen mit bis zu 700 Besuchern durch und steigert so ihr Wählerpotential.{1009_Gemeindehaus_an_der_Willibrordi-Kirche.jpg}

Die Kirchenwahlen vom November 1932 verschaffen den inzwischen gegründeten Deutschen Christen schon 1049 von 2800 Stimmen und damit einen beträchtlichen Einfluss im Presbyterium.

Sternstunden für die Deutschen Christen

Nah der Machtergreifung Hitlers im Januar 33 wird klar, wie sehr sich die Situation im Presbyterium zugunsten der Deutschen Christen verschoben hat.

Ein erster Hinweis in dieser Richtung ist bereits die nächste Sitzung nach der Machtergreifung am 7.3.33. Dort kann sich der Kreisleiter der Glaubensbewegung „Deutscher Christen“ mit seinem Antrag auf einen  besonderen Gottesdienst durchsetzen. Dieser soll „für die gnädige Bewahrung vor dem Bolschewismus  danken und Gottes Segen für die Arbeit der Regierung“ erbitten.  Auch ein Gedenkgottesdienst zum Jahrestag der Machtübernahme wird in einer außerordentlichen Sitzung am 27. Januar 1934 befürwortet.

Im Juli 1933 kommt es zu einer außerordentlichen Neuwahl des Presbyteriums, die „von der Regierung, die die Gunst der Stunde nutzen wollte, kurzfristig angeordnet worden“ war. Als einziger Wahlvorschlag wird eine Einheitsliste  der „Glaubensbewegung Deutscher Christen“ von 25 Bewerbern vorgelegt.  Da nur dieser einzige Wahlvorschlag existiert, sind damit alle 25 Bewerber zu Presbytern gewählt. Am 19. September 33 wird Pfarrer Helmut Bertrams aus Mehr als Nachfolger von Pfarrer Johannes Boelitz in die Pfarrstelle an der Willibrordi-Kirche gewählt. Er wird in den nächsten Jahren zu einem der wichtigsten Förderer der Deutschen Christen in der Evangelischen Kirchengemeinde werden.{1009_Dom_entenmarkt_ganz_klein.jpg}

Im Januar 1934 werden verschiedenen mit der NSDAP verbundenen Kampfverbänden wie der SA und der SS besondere Plätze in der Willibrordi-Kirche zu einem geordneten Besuch des Gottesdienstes zugestanden.

Die Eingliederung der kirchlichen Jugend in die HJ (Hitlerjugend) und in den  BDM (Bund Deutscher Mädel), die Reichsjugendpfarrer Zahn fordert, wird vom Presbyterium in der Sitzung am 15.2.34 befürwortet und vollzogen. Am 8. April 1934 wird für den ausscheidenden Pfarrer Friedrich Hunger   Elias Brauer als neuer Pfarrer eingeführt. Beim Gottesdienst ist eine Fahnenabordnung der NSDAP anwesend, auch HJ und BDM nehmen an der Einführungsfeier im Evangelischen Gemeindehaus teil.{1009_maritzen_dom_hakenkreuzfahnen_rathaus_sw_klein.jpg}

Kirchenkampf im Weseler Presbyterium

Wenn auch in den eineinhalb Jahren seit der Machtergreifung Hitlers die Anhänger der Deutschen Christen sich in allen strittigen Fragen durchsetzen können, so bildet sich doch recht bald auch innerhalb des Presbyteriums in Gestalt der Pfarrer Emil Tappenbeck und  Wilhelm Over eine deutliche Opposition. Die Streitigkeiten entzünden sich an den kirchenpolitisch unterschiedlichen Meinungen innerhalb des Pfarrkollegiums. Aber auch theologische Unterschiede – ausgelöst durch die Kampagne der Deutschen Christen, das „jüdische Erbe“ der Bibel abzustoßen, treten offen zu Tage. Pfarrer Tappenbeck hält  am 29.11.33 in seiner Eigenschaft als Vorsitzender des Presbyteriums  trotz Protest der Anwesenden auf der Versammlung der Gemeindevertreter an seinem Plan fest, einen Vortrag zu halten. Er trägt den Titel: „Jüdisches, allzujüdisches in der Bibel?!“ 28 von 57 anwesenden Personen verlassen darauf die Sitzung. Auch wenn nicht bekannt ist, welche Ausführungen Emil Tappenbeck zu diesem Thema an jenem Abend gemacht hat, so ist doch offensichtlich, dass sich sein Referat in kritischer Weise auf die gerade zuvor stattgefundene Sportpalastkundgebung der Deutschen Christen in Berlin bezog, bei der u.a. die Abschaffung des kompletten jüdischen Erbes in Bibel und christlicher Lehre gefordert wurde.

Während Tappenbeck sich  mit seinem Vortrag, der sehr wohl an der jüdischen Tradition der Bibel orientiert ist,  als Sympathisant  der Bekennenden Kirche zu erkennen gibt,  sind Pfarrer Helmut Bertrams (1933-48 Pfarrer in Wesel)  und Pfarrer Elias Brauer (1934-35)  inzwischen klar mit den Zielen der Glaubensbewegung Deutscher Christen (DC) verbunden. Von Bertrams ist bekannt, dass er Mitglied der D.C. wurde, von Brauer ist es zu vermuten. Sie werden vom Presbyterium am 26.4.34 beauftragt, im Namen der Glaubensbewegung Deutscher Christen „volksmissionarische Kurse“ im Evangelischen Gemeindehaus abzuhalten. Im Juni 34 fordert  der Vorsitzende Pfarrer Bertrams und mit ihm das Presbyterium die Absetzung seines Kollegen Tappenbeck. Im Hintergrund steht der Vorwurf, Tappenbeck halte sich nicht an die Beschlüsse des Presbyteriums und gebe z.B. Nachrichten an eine kirchliche Zeitschrift („Sonntagsblatt“) weiter, die den Kirchenstreit schüre und offensichtlich die Positionen der BK vertritt. Man habe deshalb den Kontakt zu dieser Zeitung abgebrochen, woran sich Tappenbeck aber offensichtlich nicht halte. Außerdem wird  Tappenbeck vorgeworfen, dass er nicht die  vom Superintendenten ausgesprochene Warnung vor der freien Synode in Barmen von der Kanzel verlesen habe.

Der Streit schwelt einige Monate weiter und führt zu hohen Emotionen. Letztendlich kehrt im November 34 ein vorläufiger Burg-Frieden wieder ein, als Pfarrer Tappenbeck zusammen mit Pfarrer Over erklärt,  „mit den anderen Kollegen in allen unser Gemeindeleben betreffenden Dingen auf der Grundlage der  Rheinisch-Westfälischen Kirchenordnung zusammenarbeiten und alles tun (zu) wollen, daß der kirchenpolitische Gegensatz nicht zu einem persönlichen werde.“{1009_Pfarrer_Emil_Tappenbeck_1933.jpg}

Distanzierung und Konfrontation: Die Kirchengemeinde verteidigt sich gegen antichristliche Propaganda

In den folgenden Jahren wird deutlich, dass das Presbyterium nun mehr und mehr die kritische Haltung des nationalsozialistischen Staates zur Kirche  bewusst wird und die NS-Vertreter in Gestalt der Deutschen Christen das Presbyterium verlassen und stattdessen den Kirchenaustritt propagieren.

 So protestiert das Presbyterium in einem Schreiben an alle Gemeindeglieder im Januar 1937 gegen die von führenden Nationalsozialisten unterstützte Austrittsbewegung. Dort heißt es u.a. „Es ist nicht tragbar, wenn unverhohlen zum Austritt aus der Kirche aufgefordert wird.“ Letztendlich war das Gemeindeschreiben ein verzweifelter Versuch, die die Gemeindeglieder zum Verbleib in der Kirche zu überzeugen. Doch die Austrittsbewegung (mit über 1500 Austritten in fünf Jahren!) konnte dadurch in Wesel vorerst nicht gestoppt werden.

Offener Widerstand durch Pfarrer Heinrich Schmitz

Mit Pfarrer Heinrich Schmitz, der am 8. September 1943 erstmals eine Sitzung des Presbyteriums besuchte, kam ein Pfarrer in die Kirchengemeinde Wesel, der eine besonders radikal ablehnende Haltung gegenüber dem NS-Staat einnahm. Er war nach Wesel geschickt worden, um dort die freie  Pfarrstelle an der Lauerhaas-Kirche in Obrighoven  zu besetzen. Schmitz war schon in den Jahren zuvor vielfach in Konflikte mit den Nationalsozialisten verwickelt gewesen.

Auf seiner ersten Sitzung im Presbyterium fordert er „das Geläute bei nicht kirchlichen Beerdigungen ausgetretener Personen(…) abzulehnen.“ Schmitz will offensichtlich verhindern, dass die ausgetretenen und ehemaligen Gemeindeglieder, die größtenteils Anhänger des Nationalsozialismus waren, im Falle ihres Todes nicht noch besonders durch das Glockengeläut gewürdigt werden. Schon wenige Monate später am 20. Juni 1944 findet sich eine  lapidare aber unmissverständliche Mitteilung: „Am 16. Juni ist Herr Pfarrer Schmitz durch die Geheime Staatspolizei verhaftet und dem Gefängnis in Emmerich zugeführt worden.“{1009_Pfarrer_Heinrich_Schmitz.jpg}

Nach einigen Zwischenstationen wird er schließlich im Dezember 1944 in das Konzentrationslager Dachau bei München verlegt. Er wird in den sogenannten „Pfarrerblock“ eingewiesen.

In den letzten Kriegswochen werden die Gefangenen Dachaus zu langen Fußmärschen in Richtung Alpen und einer angeblichen „Alpenfestung“ gezwungen, da die Alliierten vorrückten. Mit viel Glück wurde Pfarrer Heinrich Schmitz bei einer riskanten Rettungsaktion mit rund 50 anderen Mitgefangenen befreit.

Das Schuldbekenntnis des Presbyteriums 2. Juli 1945 („Weseler Schuldbekenntnis“)

Wenige Wochen nach Kriegsende am 8. Mai 1945 trifft sich das Presbyterium am 2. Juli 1945 zu einer Sitzung, auf der eine Erklärung verabschiedet wird, die man als „Weseler Schuldbekenntnis“ bezeichnen könnte. Sie enthält eine Bewertung zu dem Verhalten des Presbyteriums und der Gemeindeglieder der Evangelischen Kirche Wesel in der Zeit des Nationalsozialismus von 1933-1945. Das Presbyterium zeigt darin Reue gegenüber seiner Verblendung in der Zeit der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft und ist bereit sich durch dieses Schuldbekenntnis dem „Bußruf Gottes … zu beugen.“ Das Presbyterium bekennt sich dazu, in vielerlei Situationen falsch, unüberlegt und nicht nach dem Glauben Gottes gehandelt zu haben und erklärt: „Wir haben geschwiegen, wo lauter Widerspruch unsere Pflicht gewesen wäre; wir haben vor den Größen dieser Welt den Herrn der Kirche verleugnet.“ Man habe dadurch die eigenen Aufgaben als „Wächter der Gemeinde“  vernachlässigt und sich durch den „Einbruch des Geistes dieser Welt“ täuschen lassen. Das Presbyterium habe „in der Stunde kirchlicher Entscheidungen“ die falschen Urteile und Anordnungen gefällt „und manche ungewarnt den Weg des Irrtums gehen lassen.“

Dieses Schuldbekenntnis des Presbyteriums wurde öffentlich bei den Gottesdiensten der Kirchengemeinde am 8. Juli 1945, also zwei Monate nach Kriegsende, vorgetragen.{1009_Wiederaufbau_Willibrordi-Kirche_und_Gemeindehaus_1948.jpg}

Es ist tatsächlich ein erster und auch mutiger Schritt zur Überwindung der nationalsozialistischen Weltanschauung und seiner Folgen. Dennoch bleiben die Formulierungen sehr allgemein und blenden das Leid der unter der Nazi-Herrschaft Verfolgten vollkommen aus. Auch wird viel zu früh zu einer Versöhnung aufgerufen, ohne dass die Schuld ausreichend aufgearbeitet wird.

Für die gesamte Evangelische Kirche in Deutschland wurde erst Monate später das „Stuttgarter Schuldbekenntnis“ am 18. Und 19. Oktober 1945 verfasst. Dieses bezieht sich dann auch noch auf die Kriegsschuld Deutschlands, die im „Weseler Schuldbekenntnis“ gar nicht angesprochen wird. Dort heißt es dann: „Durch uns ist unendliches Leid über viele Völker und Länder gebracht worden.“

 

 

 

Die Reaktionen innerhalb der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel auf die Gewaltpolitik des Dritten Reiches sind im Grunde typisch für die Haltung von Gemeinden im Gebiet des Rheinlands insgesamt. Die Gemeinde in Wesel hat wie die verfasste Kirche insgesamt weder auf die Verschleppung der politischen Gegner der NSDAP  noch  auf antijüdische Ausschreitungen konkret reagiert.  Es bleibt aber auch der Eindruck, dass es im Presbyterium der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel durchaus Menschen gab, die durch ihre christliche Prägung und Haltung von Anfang an die Bösartigkeit des Nationalsozialismus durchschaut haben. Es fehlte ihnen der Mut, die einzelne christliche Widerstandskämpfer wie Dietrich Bonhoeffer oder Paul Schneider gezeigt haben, die als Märtyrer gestorben sind. Am weitesten ging jedenfalls Heinrich Schmitz, der in dieser Phase nur wenige Monate in der Zeit des Dritten Reiches in der Gemeinde wirkte. Aber auch Emil Tappenbeck ist hier zu würdigen, der auch das Risiko des Verlustes seiner Pfarrstelle bei seinem Widerstand in Kauf nahm. Auf jeden Fall gab es in dieser Phase der Geschichte der Kirchengemeinde eine Art Zerreißprobe  für die Mitglieder des Presbyteriums. So sachlich viele Formulierungen in den Protokollen auch erscheinen, so leidenschaftlich und kontrovers ist doch diskutiert und gestritten worden.